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Titel: [TXT] Magic Cee - Sankt Martin
Verfasst am: Mo, 04 Apr 2011, 20:26 |
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Autor: Magic Cee
Dateidatum: 14.8.2004
Code: |
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Sankt Martin - oder: der Fluch alter Braeuche
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Als ich vor einigen Tagen in meiner Kammer sass und beim Schein einer Kerze
alte Schriften eines antiken Philosophen und Sodomisten studierte, da klopfte
es zaghaft an mein Fenster; genauer: es klingelte an der Tuer. Da meine Mammi
nicht da war, riss ich mich nicht nur fort von den Schriften, sondern in der
Eile auch noch beinahe den Tisch um.
Ich rannte zur Tuer, in der Hoffnung, dahinter ein nettes Maedel anzutreffen,
oeffnete sie - und fand mich inmitten einer Kinderschar wieder, die bei meinem
Anblick sofort ein Lied anstimmten.Nun sind Kinder in der Regel recht schlechte
Interpreten, und ich versuchte, den sofortigen Rueckzug anzutreten. Diese Ab-
sicht wurde jedoch im Keim erstickt, da mir dichte Rauchschwaden, die, wie ich
bei der genaueren Untersuchung feststellte, von den zahlreichen Pechfackeln ab-
gesondert wurden, die Sicht nahmen, worauf ich mich nur noch tastend fortbewe-
gen konnte.
Nachdem die letzten Misstoene verklungen waren, bemerkte ich allgemein gierige
Blicke in den Augen des Fischer Chors Junior. Ich stammelte etwas von \"...sehr
schoen, wirklich nett...\" und versuchte, die Tuer zu schliessen, die ich in der
Zwischenzeit wiedergefunden hatte. Sie ging jedoch nicht zu, da zahlreiche Ex-
tremitaeten dazwischen waren, die ohne Zweifel den Kindern gehoerten.Aber nicht
nur das, nein, man hatte meine dahingehustete Bemerkung wohl falsch interpre-
tiert; denn innerhalb von Sekundenbruchteilen schwoll die Lautstaerke vor der
Tuer um einige 100 Phon an. Mein Gott...sie sangen wieder. In panischer Angst
raste ich durch die Wohnung und suchte etwas, womit ich die Koelner Kondom-
spatzen haette vertreiben koennen.
Dies war jedoch ein folgenschwerer Fehler, denn die Tuer hatte ich ja nicht
schliessen koennen. Als ich zu ihr zurueckkehrte, stand sie sperrangelweit of-
fen und eine Flut minderjaehriger Heinos und Sandras bahnte sich den Weg durch
den Korridor. Einige hatten sich bereits in der Kueche niedergelassen und mach-
ten Kaffee, andere luemmelten sich im Wohnzimmer vor dem Fernseher und bedien-
ten sich aus der Hausbar. Erschoepft liess ich mich auf der Garderobe nieder,
jedoch nur fuer kurze Zeit, da sie von fachkundigen Kinderhaenden auseinander
gebaut und abtransportiert wurde.
Im Esszimmer begegnete ich einem Trupp junger Dichter und Denker,die die Regale
von ihren Buechern befreiten und sie in Kartons packten, die ebenfalls von ei-
nem Team eingespielter Jungmoebelpacker auf die unten bereitstehenden Dreirae-
der verladen wurden. Aus dem Wohnzimmer drang ploetzlich eine Fussballueber-
tragung, jedoch in Stadionlautstaerke. Anscheinend hatten die Rangen die Fern-
bedienung gefunden, die sie nun mit erstaunlicher Sicherheit handhabten.Auf dem
Korridor wurde ich barsch angemault, ich solle gefaelligst Platz machen, damit
man die Betten und die Sitzgruppe ungehindert ins Freie schaffen konnte. Ich
torkelte in die Kueche, wo einige sadistische Elemente bei Kaffee und Kuchen
noch immer sangen und die Waende mit allerlei naiver Kunst verzierten. Mir war
ploetzlich unangenehm kalt; offenbar waren die Fensterscheiben in den Raeumen
auch schon demontiert worden. Die Fussballuebertragung brach mit einem Male ab,
10 Sekunden spaeter schleppten elf etwa 6- bis 7-Jaehrige den Fernseher unter
sichtlichen Muehen an mir vorrueber.
Die minderjaehrigen Monster in der Kueche stimmen ein neues Lied an, worauf ich
panikartig auf dem Klo Schutz suche, welches jedoch auch nicht mehr da ist. Man
haette ja wenigstens vor dem Abbau den Hauptwasserhahn abstellen koennen. Aber
der kindliche Leichtsinn - naja, auch eine Ueberschwemmung hat mitunter ihre
Vorteile. Umnebelt wanke ich durch den Korridor und werde von einem Pulk auf-
strebender Schneider zu Boden geworfen, die mich meiner Kleidung berauben. Mit
einem Male ist es still. Etwas Grauenhaftes muss geschehen sein.
Ich liege nackt auf dem Boden einer vollkommen leergeraeumten Wohung und weine.
Was wird meine Mutter sagen, wenn sie heimkehrt? Schluchzend schleppe ich mich
zum Balkon, um mich vom selben zu stuerzen. Es ist Nacht. Ich blicke mit leid-
vollen Augen zum Himmel, als sich ploetzlich die Sterne in Goldtaler verwan-
deln und auf mich niederprasseln.In der Luft liegt ein Jauchzen und Frohlocken,
die ganze Natur stimmt mit ein in jenes atmosphaerische Knistern. Es prasselt
immer mehr. Ich raffe die Taler zusammen und lade die mich umschwirrenden Engel
zu einem Umtrunk ein.
C by Magic Ceee |
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