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Titel: [TXT] Mike - Per Anhalter durch eine echte Mailbox
Verfasst am: So, 07 Okt 2007, 12:42 |
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Per Anhalter durch eine echte Mailbox
oder
Serioese Netzsysteme, und was an ihnen nicht stimmt
Wie unterscheidet sich eine groessenwahnsinnige Micky-Maus-Mailbox von einer
Spielzeugbox, woran erkennt man den Unterschied zu einer serioesen solchen,
und wen interessiert der Quatsch ueberhaupt?
Am Namen liegt es nicht. Auch an der Telefonnummer nicht. Man kann sie nicht
am Titelscreen erkennen, nicht in der Eigenbezeichnung des Systembetreibers
und auch nicht an der benutzten Oberflaeche. Man erkennt sie durch
regelmaessige Stichproben. Echte Mailboxen machen mal Pause. Muessen mal
aussetzen. Echte Mailboxen halten sich an Murphy's Law. Echte Mailboxen sind
auch mal einen Monat offline, weil der Systembetreiber an der Mailboxnummer
seine neue Anrufbeantworter/Faxgeraet-Anlage ausprobieren muss. Sogenannte
serioese Boxen sind dagegen das ganze Jahr rund um die Uhr erreichbar. Kaum
ist der Rechner mal abgestuerzt, klemmt der Sysop sich auch schon dahinter
und bringt alles auf Vordermann.
Bei richtigen Mailboxen ist es jedesmal ein kleines Wunder, wenn das
angerufene Modem sich mit der hoechstmoeglichen Baudrate meldet. Man ist
dankbar fuer jedes fehlerfrei uebertragene File, verhaelt sich auch
dementsprechend und lebt sein kleines, glueckliches Leben. Moechtegern
Mailboxen sind absolut korrekt konfiguriert, beantworten mit einer peniblen
Genauigkeit jedes beknackte Mal zur exakt vorgegebenen Zeit mit einem pervers
monotonen Geraeusch jeden eingehenden Anruf. Das Modem ist dazu gezwungen,
jedes je erfundene Protokoll und jede peinliche kleine Fehlerkorrektur
ordnungsgemaess zu akzeptieren und die Verbindung aufzubauen, die dem Benutzer
den maximal moeglichen Geschwindigkeitsnutzen bringt. Wehe, ein Fehler
schleicht sich ein! Da ist da Gezeter gross. Die Modems von Insiderboxen haben
es da einfacher: Sie haben freie Auswahl, ob und bei welcher Baudrate sie
abheben, oder auch nicht. Sie fuehren ein glueckliches Leben, weil sie noch
Dank empfangen. Dank ist sowieso etwas, was Outsiderboxen so
selbstverstaendlich ablehnen. Ein Computer hat zu funktionieren, basta!
Abscheulich, nicht?
Und wie auch das Modem zur blossen Peripherie degradiert wird, so ist auch die
Mailbox der ach-so-vernuenftigen ein unterwuerfiger Knecht der Menschen. Gibt
es mal ein falsch uebertragenes Byte, war die Mailbox fuer fuenf Minuten mal
nicht erreichbar oder legte der Sysop seine Prioritaeten zu Ungunsten der
kleinen PM-Notiz aus, ist das Geschrei gleich gross. Der User spielt sich und
seinen Rechner zu Ueberwesen auf, der mit Schlagworten wie "Vetrauensverlust",
"Einkommensausfaelle" oder "Alternativnetze" nur so um sich schmeisst. Wie
viel humaner geht es doch in den einzig wahren Mailboxen zu! Man ist dankbar
fuer jede Stunde, in der sich der Systembetreiber mal nicht seinen sonstigen
Hobbies, sondern der Hege und Pflege seines elektronischen Briefkasten widmet.
Hier herrscht noch Ruhe. Hier gibt es kein aufmuepfiges Geschrei wegen
verlorener Daten, Offlinezeiten oder dem 11. Port. Hier ist der User noch
lange kein Koenig. Man kann den Sysop noch als Menschen, und nicht als
system-vorgesetzten Angestellten einer Behoerde betrachten, der vor
seinem Compie, und keinem x-beliebigen Datenprozessor hockt.
Paradox ist die sogenannte "Netz"-Bezeichnung. Netze sollten doch moeglichst
eng gewebt sein. Mit starken Bindungen an-, unter- und zueinander. Wo ist das
denn das heutzutage noch anzutreffen? Die 'sinnvollen' Netzsysteme sind weit
gewebt, zu viele Persoenlichkeiten fallen einfach durch. Verstaerkt wird
dagegen nur die Ueberfremdung. Man kennt sich ueberhaupt nicht mehr. Es ist
schon schwer genug, sich an all die Gates, Gateways, Gangways, X-, Y- und
Z-NETZE zu erinnern. Da kommt die persoenliche Bindung doch viel zu kurz. Wo
bei den intimen eigeweihten Mailboxen noch 1x am Tag gepollt wird, da geben
sich die meisten ernsthaften Systeme mit -zig anonymen Netcalls ueber den
ganzen Tag zufrieden. Keiner weiss, wann Nachrichten kommen. Alles geht in
einer gewaltigen Lawine an Daten unter, die sowieso keiner haben will. Ach,
wie gluecklich ist doch der Anrufer einer echten Mailbox, der genau weiss,
wann er seine gewuenschten Neuigkeiten abholen kann. Er kann den Strom der
Daten praktisch hoeren, wenn die einzige Leitung mal wieder stundenlang belegt
ist. Woran erkennt so etwas der Outsider? Er kann es nicht erkennen, da er
notfalls immer noch ueber einer der Lines eintreten kann.
Die User der Moechte-gern-Mailbox erfahren am eigenen Leibe Orwells "FREEDOM
IS SLAVERY" kennen. Sie werden Opfer ihrer eigenen animalischen Triebe, ihrem
unmoralischen Streben nach Demokratie, Meinungsfreiheit und
Informationstausch. Wo sich die Anrufer in den wahren Boxen noch in der
sicheren Obhut von vaeter- oder muetterlicher Umsorgung, Zensur und
willkuerlichen Strafen, Brettumordnungen, Zugriffs-up- oder -downdates
befinden, haben die bemitleidenswerten User der Outsider Boxen jahrelange die
gleichen Brettordnungen, Onlineprogramme und Prioritaetshierarchie. Gemessen
wird Zuverlaessigkeit, Serioesitaet und Engagement. Wie kindisch! Wo in echten
Boxen noch Rechnertyp, Usergebuehr und .GIF-Upload die Hoehe der Zugrissrechte
bestimmen, halten sich nicht nicht-ernstzunehmenden Boxen an Ideale wie vor
100 Jahren.
Beziehungen zwischen den Usern und Sysops gestalten sich auch ganz anders als
die zwischen "Benutzern" und "Systembetreibern" serioeser Boxen. Der User
kennt seinen Sysop. Er bringt ihm die Usergebuehr auch schon mal persoenlich
vorbei und freut sich, wenn der Sysop ihn mal nicht ignoriert. Der Benutzer
dagegen ueberweist sein Geld, spricht mit dem Betreiber wie mit einem
Untergebenen, stellt ungeheure Ansprueche von wegen zusaetzlicher Netze und
ist sowieso die meiste Zeit ungluecklich, weil ihm kein Freiraum bleibt,
irgendwelche Features zu entdecken oder Befehle auszuprobieren, weil der
Benutzer alles idiotensicher konfigurierte und auch schnell bei der Tastatur
ist, wenn Probleme auftauchen. Wie ungestoert ist da doch der User der
unprofessionellen Box. Es kann Wochen dauern, bis der Sysop einen Absturz
bemerkt, aber zumindest liest der Sysop nicht staendig alles mit.
Mike. |
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