boris
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Titel: Sarah Waters - Die Muschelöffnerin
Verfasst am: Mo, 13 Jul 2020, 22:30 |
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Sarah Waters - Die Muschelöffnerin
Originaltitel: Tipping the Velvet
Story: Nancy Astley wächst Ende des 19. Jahrhunderts in einer Kleinstadt an der Küste von Kent auf und arbeitet im Restaurant ihrer Eltern als Muschelöffnerin. Sie sieht sich gern Variete-Vorstellungen an und verliebt sich dort in Kitty Butler, die in Männerkleidung auftritt, tanzt und singt. Sie wird Kittys Garderobiere, sie werden ein Liebespaar und treten schließlich gemeinsam auf.
Erst im Laufe der Story merkt man, dass der Titel tatsächlich so anzüglich zu verstehen ist, wie man zuerst vielleicht meint, der Originaltitel ist da expliziter, "tipping the velvet" ist Umgangssprache für weiblichen Oralverkehr. Sarah Waters schrieb eine Dissertation über homosexuelle Fiktion im 19. Jahrhundert, außerdem recherchierte sie Pornographie dieses Zeitalters. Das merkt man dem Roman an, an jeder Ecke wird es historisch, was Kleidung und Gebräuche sowie die Geschichte des Varietes - und speziell der dort als Männer verkleideten Frauen - angeht, die Pornographie beschränkt sich auf ein paar Szenen und ist auch nicht wirklich explizit. Die Lebensgeschichte des einfachen Mädchens, das sich in eine Frau verliebt, ist toll erzählt, die Innenansichten sind hervorragend, immer wieder gibt es Querverweise auf andere Situationen - Klasse!
Die Konstruktion der Story wirkt manchmal etwas bemüht, weil wirklich sehr viel in die Geschichte gepackt wird, soviel, dass es manchmal schwer fällt, zu glauben, dass all das einer Person passiert sein soll. Auch die Zufälle und ständigen Wiederbegegnungen sind oft etwas viel. Zusätzlich wirkt der dritte Teil etwas aufgesetzt, hier hat man den Eindruck, als müsste jetzt der Arbeiterkampf unbedingt noch mit reingepresst werden, wenn er auch mit der Story nicht direkt etwas zu tun hat. Das Ende entschädigt wieder etwas.
Im letzten Drittel leider etwas schwach, insgesamt aber so gut erzählt, dass ich eine knappe Empfehlung ausspreche.
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