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Titel: [FAQ] Anarchismus
Verfasst am: Di, 02 Okt 2007, 22:51 |
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FAQ - A N A R C H I S M U S !
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Da in der letzten Zeit in verschiedenen Brettern der Anarchismus immer
öfter Bestandteil von Diskussionen wird, möchte ich mich hier mal ganz
objektiv darüber auslassen. Ich habe festgestellt, daß die Schreiber
im Brett zum Teil recht unterschiedliche Auffassungen und
Vorstellungen vom Anarchismus haben und deshalb manchmal aneinander
vorbeireden. Mit diesem FAQ-Bericht möchte ich einmal versuchen, alle
mir bekannten Strömungen des Anarchismus ohne jegliche Bewertung
vorzustellen, um den Menschen hier ein vollständigeres Bild davon zu
vermitteln, über was sie sich gerade streiten. Die mir bekannten
lesenswerten Literaturquellen sind unten angegeben. Der Bericht
beginnt mit einem Zitat von Erich Mühsam, einem Mitbegründer des
Anarchokommunismus. Der Text soll, wie schon erwähnt, keine Wertung
zu einzelnen anarchistischen Strömungen bringen, sondern einfach nur
Fakten.
Viel Spaß beim Lesen und dazulernen(?) !!
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"Anarchismus ist die Lehre von der Freiheit. Wo Ausbeutung ist, wo
Macht ist, wo Autorität waltet, wo Zentralismus besteht, wo der Mensch
den Menschen bewacht, wo befohlen und gehorcht wird, ist keine
Freiheit. Die Zerstörung aller Obrigkeit, aller Vorrechte, aller
Eigentums- und Verwaltungseinrichtungen kann nur aus einem
freiheitlichen Gemeinschaftsgeist erfolgen. Die klassenlose
Gesellschaft freier Menschen - das ist Kommunismus, die Verbundenheit
Gleicher in Freiheit - das ist Anarchie."
Erich Mühsam
ZIEL des Anarchismus:
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Das Ziel des Anarchismus ist die freie Gesellschaft.
GRUNDPRINZIPIEN des Anarchismus:
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Die Grundprinzipen sind die Abschaffung des Kapitalismus (Eigentums-
verhältnisse, Produktionsweise, Lohnarbeit, Geld), die Abschaffung des
Staates als repressives Herrschaftsinstrument zur Erhaltung der
Machtstrukturen, der Förderalismus nach dem Räteprinzip als autonomer,
freiwilliger Zusammenschluß in lokalen Assoziationen, die horizontal
und vertikal miteinander vernetzt sind, die direkte Demokratie auf
allen Ebenen und das Prinzip der permanenten Revolution (ständige
Überprüfung der Entwicklung an den tatsächlichen Bedürfnissen).
ORGANISATIONSFORMEN des Anarchismus:
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Die Organisationsformen entsprechen in ihrem Erscheinungsbild den
Grundprinzipien der libertären Gesellschaft und sind somit basis-
demokratisch und dezentral, also sozusagen "von unten nach oben"
aufgebaut. Entscheidungen werden von denen gefällt, die davon
betroffen sind. Die Unterschiede in der Organisationsstruktur
entsprechen den unterschiedlichen Strömungen innerhalb des
Anarchismus.
HAUPTSTRÖMUNGEN des Anarchismus:
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Mutualismus (Förderalismus):
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Der Begründer des Mutualismus war Pierre Joseph Proudhon (1809-1864).
Seine Theorie beschreibt ein förderalistisches Gesellschaftsmodell auf
freiwilliger Basis unter Betonung des Genossenschaftsgedankens ("Bund
der Arbeiterassoziationen und Kommunen"). Der Staat wird hier durch
die Verdrängung des politischen und des wirtschaftlichen Sektors
überflüssig gemacht. Der Grundbesitz soll kollektiviert werden. Für
sogenanntes arbeitsloses Eigentum (Miete und Zinsen) gilt: "Eigentum
ist Diebstahl!", nicht jedoch für sogenanntes Arbeitseigentum.
Proudhon fordert die gesellschaftliche Umwälzung durch Reformen, also
eine evolutionäre Veränderung anstatt einer Revolution. Ein
praktisches Beispiel was das "Tauschbankprojekt" Proudhons. Seine
Theorie hatte großen Einfluß auf die sozialistische Bewegung;
besonders auf die franz. Arbeiterbewegung.
Kollektivismus:
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Der Hauptvertreter des Kollektivismus war Michail Bakunin (1814-1876).
Er stellt eine Weiterentwicklung des förderalistischen
Gesellschaftsmodells dar. Bakunin fordert die Kollektivierung aller
Produktionsmittel unter Beibehaltung der Entlohnung nach geleisteter
Arbeit ("jedem der volle Ertrag seiner Arbeit"). Bakunin legte
starkes Gewicht auf gewerkschaftliche Organisationen. Sein Mittel war
die Revolution. Er hatte großen Einfluß auf die sozialistische
Bewegung (vor allem in den südeuropäischen Ländern) und prägte
außerdem das Wesen des Syndikalismus. Als kollektivistische
Organisationen gelten die Schweizer Juraförderation, zahlreiche
Geheimbünde in ganz Europa, sowie Narodniki in Rußland. Der
"Antiautoritäre Flügel" innerhalb der "1. Internationale" bestand aus
Mutualisten und zum Großteil aus Kollektivisten.
Anarchokommunismus (libertärer Kommunismus):
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Die Hauptvertreter des Anarchokommunismus sind Peter Kropotkin (1842-
1921), Erich Mühsam und Errico Malatesta. Er ersetzt das
Leistungsprinzip durch das Prinzip der freien Konsumption ("jedem nach
seinen Bedürf- nissen"). Kropotkin leitete die Gedanken der
herrschaftsfreien Gesellschaft naturwissenschaftlich ab (Prinzip der
gegenseitigen Hilfe - Darwinusmus). Sie wollen eine allgemeine
Lebenssicherung und Wohlstandssteigerung durch die Ausnutzung der
modernen Technik und die Beschränkung der Produktion auf Sinnvolles
und Notwendiges erreichen. Ihr Mittel ist die evolutionäre
Fortentwicklung der Menschheit, aber "Evolution benötigt
revolutionären Durchbruch. Sie alle hatten großen Einfluß auf
sozialistische Bewegungen. Kropotkin wirkte darüber hinaus auch auf
Nichtsozialisten. Anarcho- kommunistische Ansätze sind in
verschiedenen Organisationen wirksam (u.a. "Anarchistische
Förderation Deutschlands" (AFD)).
Revolutionärer Syndikalismus, Anarcho-Syndikalismus:
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Einige Theoretiker sind Rudolf Rocker (1873-1958), Max Nettlau,
Fernand Pelloutier und Angel Pestana. Der Anarcho-Syndikalismus ist
die Erscheinungsform des Anarchismus im Rahmen der Arbeiterbewegung.
Die Gewerkschaften gelten dabei als zentrales Element der freien
Gesellschaft. Ihre Aufgabe ist, den Kampf um soziale Verbesserungen
mit dem Endziel der "sozialen Revolution" zu einer Einheit zu
verbinden. Ihre Arbeitsweise ist der soziale Generalstreik als
"direkte Aktion". Die Organisationsform ist das "Prinzip des Zieles
im Mittel", d.h. der prerevolutionäre Aufbau der Gewerkschaft soll
den der zukünftigen Gesellschaft wiederspiegeln. Eine besondere
Betonung liegt auf dem ökonomischen Sektor: Die Freiheit der Arbeiter
liegt auf der Selbstbestimmung am Arbeitsplatz begründet.
Anarcho-Syndikalistische Organisationen sind z.B. CNT (Spanien), CGT
(Frankreich), USI (Italien) und FAUD (Deutschland). Sie sind in der
syndikalistischen Internationale, IAA (Internationale
Arbeiterassoziation), mit einem Mitgliederhöchststand von ca. 3
Millionen in den 20er Jahren zusammengeschlossen. Sie hatten auch
großen Einfluß auf andere Kreise (IWW in den USA). Sie beteiligten
sich an revolutionären Bewegungen wie z.B. der Novemberrevolution
1918. Es gibt Versuche zur Schaffung einer Antifa- Einheitsfront
gegen Nazis, eine eigenene illegale Organisationsstruktur und aktiven
Widerstand der FAUD.
UNBEKANNTERE STRÖMUNGEN des Anarchismus:
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Sozialistischer Anarchismus (Siedlungsanarchismus):
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Der Hauptvertreter des sozialistischen Anarchismus war Gustav
Landauer. Er wollte mittels Siedlungsgenossenschaften sozialistische
Inseln im Kapitalismus schaffen, die durch die Macht des praktizierten
Beispiels überzeugend wirken sollten. Landauer selbst hat nicht
versucht, seine theoretisch ausgearbeiteten Positionen zu
praktizieren. Er selbst blieb Theoretiker und gründete den
"Sozialistischen Bund" als lose Vereinigung lokaler Gruppen mit
siedlungsgenossenschaftlicher Zielsetzung, die bis in die Schweiz und
nach Österreich hinein wirkten. Er war Herausgeber der Zeitschrift
"Der Sozialist" und beteiligte sich an der Münchner Räte- republik,
bei deren Zerschlagung er umgebracht wurde. Seine Ideen des
Siedlungsanarchismus wirkten fort. Vor allem durch Martin Buber bis
hin zum Kibbuzim-Modell heutzutage.
Christlicher Anarchismus:
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Der Hauptvertreter des christlichen Anarchismus, Leo Tolstoj,
bezeichnet sich selber nicht als Anarchisten, lehnt aber Staat,
Autorität und Eigentum ab. Die christlichen Lehren (nicht die
kirchlichen) stellen die "aller- strengste, reinste und vollständigste
Erfassung des Gesetzes der Vernunft" dar und bilden die Grundlage der
freien Gesellschaft. Das höchste Gesetz ist damit die Liebe. Die
Gestaltung des Lebens vollzieht sich in ländlichen Gemeinschaften in
Armut, Demut und Entsagung. Leo Tolstoj fordert keine revolutionäre
Umgestaltung. Nach ihm schaffen Bewußtseinswandel, Über-
zeugungsargbeit und Gehorsamsverweigerung die neue Gesellschaft. Er
lebte selbst nach seinen eigenen Grundsätzen.
Individueller Anarchismus:
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Haupt- und zugleich extremster Vertreter des individuellen Anarchismus
war Max Stirner (1806-1876). Er propagierte die Rückkehr des Menschen
zur Individualität. Der Egoismus war für ihn die Grundlage des
menschlichen Zusammenlebens (vgl. "Die Summe allen Egoismus ist das
Gemeinwohl" (A.Smith)). Bei Stirner ist das Ziel die "Eigenheit"
(statt "Freiheit"), d.h. jeder ist zu allem berechtigt, zu dem er
befähigt ist. Der individuelle Anarchismus wendet sich gegen den
Staat und jede andere Form der sozialen Vereinbarung. Er läßt nur
kurzzeitige Vereinigungen zur Verteidigung von Besitz zu (Prinzip
"Alle gegen alle"). Stirner wurde nach seinem Tod kaum mehr beachtet.
Später gab es eine Neubelebung durch Mackay. Andere
Individualanarchisten wurden mehr beachtet: In den USA bildete sich
eine eigene individualanarchistische Schule, die pragmatischer
eingestellt ist als Stirner. Die politische Arbeit läuft im Bereich
der Agitation ab.
Literaturtips und -verweise:
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- Guerin, Daniel: Der Anarchismus. Begriff und Praxis. Suhrkamp TB
- Witkop, Justus F.: Unter der schwarzen Fahne. Gestalten und Aktionen des
Anarchismus. Frankfurt/M. 1989 Fischer TB
- Mühsam, Erich: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Berlin 1981.
Karin Kramer Verlag
Die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip, Meppen 1981
Libertäre Assoziation, Broschüre
- Walter, Nicholas: Betrifft: Anarchismus. Ein Leitfaden in die
Herrschaftslosigkeit. Berlin 1984, Libertad Verlag
- Klan, Ulrich &
Nelles, Dieter: Es lebt noch eine Flamme.
Rheinische Anarcho-SyndikalistInnen in der Weimarer
Republik und im Faschismus.
Grafenau-Döfflingen 1986, Trotzdem Verlag
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